Drei Mitglieder unserer Gemeinde berichten, wie sie den 9. Oktober 2019 erlebt haben:

Der Stoffladen „Patch & Work“ von Grit Weigmann liegt in der Ludwig-Wucherer-Straße. Grit erzählt:

Kurz bevor ich diesen Text zu diesem unglaublichen Terrorakt schreibe, ist die Polizei mal wieder bei uns im Laden, mit der Bitte ein Plakat auszuhängen. Es geht darum, weitere Zeugen zu finden. Das Foto vom Täter und allein die Präsenz der Polizei lassen ein ungutes Gefühl aufsteigen. Ein Gefühl, das ich so noch nicht lange kenne. Ähnliche Nachrichten aus aller Welt lassen mich erschaudern, dringen aber nicht so tief wie im Nachklang des 9. Oktober 2019.

An dem Tag sitze ich in meinem Büro, sage gerade einen Termin für den nächsten Tag ab, ohne zu ahnen, dass die nächsten Tage sowieso anders als geplant verlaufen werden. Draußen fährt ein Müllauto. Ich höre Geräusche, die ich der nahen Baustelle zuordne. Vielleicht schmeißt jemand alte Ziegel in einen Container. Bis meine Mitarbeiterin aufgeregt ins Büro kommt. „Da draußen wird geschossen“. Schnell rennen wir nach vorne. Was ich da sehe, ist nicht begreifbar. Polizisten schießen aus der Deckung hinter einem Fahrzeug. Kein Filmdreh, die Szene ist echt.

Ich wusste bisher nicht, wie ich in so einer Situation reagieren würde. Zum Glück bleibe ich ruhig. Wir gehen alle schnell ins Büro, in den Raum, der am weitesten von den Schaufenstern entfernt ist. Das fühlt sich sicher an. Ich renne noch einmal schnell nach vorne, um abzuschließen. Eine Kundin ist mit uns noch im Laden. Meine syrische Mitarbeiterin trifft es emotional besonders hart. Ich kann nicht
ermessen, was in ihr vorgeht, aber ihr Körper zeigt es deutlich: Zittern, Tränen, sie bricht zusammen. Wir melden uns bei unseren Familien, sagen, dass es uns gut geht, warnen, hier in die Nähe zu kommen. Noch wissen wir gar nichts.

Bis zum Abend sind wir im Geschäft zusammen, an Arbeiten ist nicht zu denken, aber wir haben uns, die Gemeinschaft hilft. Wir reden viel, checken Nachrichten, kommunizieren mit unseren Familien. Nach der Entwarnung verlassen wir das Geschäft. Es ist spät geworden.

Was mir geholfen hat? Ich gehe zum Gedenkgottesdienst, an die Orte des Geschehens, zur Lichterkette. Singe leise mit vielen anderen Shalom chaverim, teilweise herrscht dichtes Gedränge,
aber alle sind ergriffen, friedlich, aufmerksam. Das ist genau das Gegenteil von dem, was der Täter wollte und ja, die Stimmung tröstet und sie tut so gut, aber ich weiß auch, sie wird nicht lange anhalten. Der Alltag geht weiter. Die kleinen alltäglichen Ärgernisse werden uns wieder einholen.

Ich denke sehr oft, es hätte noch viel schlimmer kommen können, aber das wird den beiden Opfern nicht gerecht. Daher finde ich die Worte unseres Landesbischofs sehr tröstlich und treffend:
„Die Tür hat gehalten – das ist das Wunder von Halle. Doch zwei Menschen mussten sterben – das ist die Wunde von Halle.“

Magdalena Hanke war zum Zeitpunkt des Attentats auf dem Weg zum Bahnhof.

Ich sitze in der Straßenbahn und bin auf dem Weg zum Bahnhof. Das erste Mal will ich nur mit meinem Kind und Zug meine Eltern besuchen fahren. Zu Hause war es schon etwas aufregend,
alle Dinge einzupacken, Baby anzuziehen und zur Straßenbahn zu gehen. In dem Moment riefen mich schon drei Freunde an. Die Anrufe nahm ich nicht entgegen, denn ich musste ja die Bahn
bekommen. In der Bahn rief mich dann mein Mann mehrfach an und ich ging endlich ans Telefon. Er erzählte mir, was sich im Paulusviertel ereignet hatte.

Die Ereignisse noch nicht ganz fassend, beobachtete ich in der Bahn mehrere Leute, die panisch versuchten Freunde und Verwandte zu erreichen oder zügig an der nächsten Haltestelle ausstiegen. Meine Entscheidung war, erst einmal zum Bahnhof zu fahren und zu sehen, wie die Dinge dort stehen. Der Bahnhof war gesperrt und es wartete schon eine große Menschentraube davor. In dem Moment des Stehenbleibens wird mir bewusst, was diese Ereignisse eigentlich heißen für unsere Stadt und die Menschen. Langsam werde ich nervös und merke, wie auch mich die Unsicherheit packt. Hier will ich nicht bleiben. Ich entscheide mich, zu einer Freundin zu fahren, die in der Nähe des Bahnhofs wohnt.

Mittlerweile trifft man nur noch hastig laufende Menschen, was mich auch schneller laufen lässt. Auch mein Kind spürt meine Unruhe. An diesem Tag sind wir nicht mehr zu meinen Eltern gefahren. Am
nächsten Tag habe ich ein komisches Gefühl, als ich mein Vorhaben wiederhole, diesmal erfolgreich.

Unser Vikar Jakob Haferland hielt am Sonntag nach dem 9. Oktober den Gottesdienst – war das einfach?

Nein, mir ist es überhaupt nicht leicht gefallen. Ehrlich gesagt, war es die wohl größte Herausforderung in meinem Vikariat, am Sonntag nach dem Anschlag den Gottesdienst zu halten. Die größte
Schwierigkeit bestand für mich darin, dass ich selbst noch völlig unter Schock stand, da ich ja genauso betroffen wie die meisten Menschen in Halle war. In dieser Situation für andere Worte zu
finden, fiel mir nicht leicht. Ich konnte deshalb gar nicht anders, als diese Fassungslosigkeit im Gottesdienst vor Gott zu bringen. Obwohl ich ihn ja selbst gehalten habe, hat mir der Gottesdienst
dennoch sehr geholfen das Geschehene zu verarbeiten.