Während ich dieses schreibe, sitze ich im Schatten einer fast dreihundertjährigen Linde. Obwohl sie mittlerweile einen privaten Baumpflegedienst hat, sind ihre Jahre vermutlich gezählt. Beziehungsweise, wenn der Baum einmal gefällt worden sein wird, wird man ihr Alter dann an den Jahresringen abzählen können. Im Frühjahr bilden Bäume hellerscheinende Holzzellen, im Winter entstehen daneben dunklere Ränder, die im Querschnitt als Jahresringe zählbar sind.
Mithilfe dieser Ringe kann man das Alter eines Baumes ablesen. Die als Ringe sichtbaren Leitungsbahnen befördern Nährstoffe und Wasser. Die jungen aktiven Holzschichten werden selber durch die Rinde von außen geschützt. Daher erkennt man, welcher Sommer trockener und welcher Winter kälter gewesen ist. Den Sommer 2018 wird man, so vermute ich stark, an einem geringen Stammeswachstum erkennen, da wegen der Trockenheit weniger Wasser im Baum von den Wurzeln in die Krone transportiert werden musste.
Ähnlich sind wohl auch unsere Jahre. Sie kommen und gehen und hinterlassen ihre Spuren. Wir schauen auf die Jahre zurück und sind erfreut. Wir erinnern uns und sind traurig. Und manchmal schmerzt es wie am ersten Tag. Doch was die Jahre wirklich gebracht haben, was gewachsen ist, zeigt sich nicht unmittelbar. Manchmal eröffnet sich nach Jahren noch einmal ein ganz neuer Blick auf ein vergangenes Jahr. Ein Mensch sagt uns, was ihm ein Wort von uns bedeutet hat. Oder erst im Rückblick erschließt sich, was ein anderer von uns erwartet hätte, wie viel ihm Beistand bedeutet hätte. Das wift ein neues Licht. Die fetten Jahre sind plötzlich gar nicht mehr so dick und die mageren scheinen plötzlich viel voller. Verzicht und Fülle, Schuld und Frucht zeigen sich noch einmal anders. Und vor allem ist es ein Segen, wenn ein Mensch aus den Erfahrungen der Vergangenheit in der Gegenwart Gutes für die Zukunft schaffen kann.
Und ich glaube und hoffe, dass Gott sogar aus den bösen und dürren Jahren noch das Beste machen wird. Wir können ihn um diesen Pflegedienst an unserm Lebensbaum bitten. Mir wäre es ein Trost und ein Zeichen der Reife, wenn ich später die Jahresringe meines Lebens versöhnt und ohne Bitterkeit ansehen könnte. Quasi im Angesicht Jesu Christi.
Ralf Döbbeling