Gottesdienst ist Begegnung und Beziehung mit Menschen und Gott
„Wenn ich nicht zum Gottesdienst gehe, fehlt mir etwas.“ Ungläubig schaue ich die ältere Dame an und frage nach. Sie erzählt lange und viel. Keine frommen Floskeln, keine Bibelstellen, keine rechtfertigenden Sätze von früher oder Tradition. Nein – alles Sätze aus dem vollen Leben. Ich bin beeindruckt und versuche die Dinge für mich zu ordnen.
Die Kirche ist wie: die ausgebreiteten Arme Gottes
Sie erzählte vom Ankommen in der Kirche, dem Gefühl willkommen zu sein. Die Menschen am Eingang sind wichtig, aber auch ohne Gesangbuch-ergänzten Handschlag kommt sie gern rein. Es ist die Stimmung, die der Anblick des Kirchenraumes auslöst. Es ist ein Gefühl, als ob sie in die ausgebreiteten Arme Gottes läuft. Willkommen sein ist ein wichtiger Fakt beim Kirchenbesuch und der Gottesbegegnung.
In der Ansprache Heimat finden
Die ersten Minuten gehen für sie fast spurlos vorbei, aber sie will sie auch nicht missen. Egal ob Glockengeläut, Orgelgespiel oder Menschengerede: Den Anfang braucht es, um anzukommen. Und dann plötzlich, ohne dass man es zeitlich festlegen kann, kommt die Ansprache, ein Gedanke im Lied, ein Wort im Gebet, eine Ansage und sie ist da. Dieser Gedanke holt sie in den Gottesdienst und macht aus der Kirche Heimat und einen Wohlfühlort. Sie fängt dann an, weitere Gedanken zu suchen, hört zu, liest mit, schaltet ab und wieder an und merkt, dass der Gottesdienst für sie zu einer vertrauten Herausforderung wird. Als sie so erzählt, schweife ich mit meinen Gedanken ab. Ich bin sogar schon mal im Gottesdienst eingeschlafen, aber nie käme mir der Gedanke früh im Bett zu bleiben und den Gottesdienst zu verschlafen. Mir würden der Gedanke und die Heimat fehlen.
Das Gebet als Freundschaftsanfrage Gottes
Wenn das Gebet kommt, hat sie die Predigt oft schon vergessen und sich über den Klingelbeutel geärgert, aber beides gehört ja dazu. Sie erwartet das Gebet als die besondere Zeit im Gottesdienst, weil es eine fast magische Atmosphäre gibt. Alle stehen auf und richten sich innerlich nach Gott aus. Die Konzentration ist beim Gebet wohl am höchsten, von allen Augenblicken im Gottesdienst. Und egal welche Worte gewählt werden, es läuft ihr kalt und heiß den Rücken runter.
Ich bin skeptisch. So charismatisch beten wir doch gar nicht, dass Leute umfallen oder laut juchzen. „Es geht äußerlich gesittet zu“, sagt sie, „aber innerlich bin ich immer aufgewühlt.“ Ich prüfe das in den nächsten Wochen im Selbstversuch. Ich komme empirisch aber nicht zu einem vernünftigen Ergebnis. Das Gebet ist mal intellektuell, mal rational, mal nicht nachvollziehbar, mal aktuell, mal so allgemein wie der Wetterbericht. Was kann also Besonderes im Gebet liegen?
Ich entdecke dann den besonderen Moment, wenn sich die innere Anspannung, auf den Wortlaut zu achten, löst und das gemeinsame Gebet einsetzt. Es ist wie eine emotionale Explosion, wenn plötzlich dieses „Vater unser“ einsetzt. Hier schließen sich die Willkommen-Arme vom Eingang fest um mich und ich weiß, dass Gottes Angebot einer Freundschaftsanfrage steht. Ich muss ihm nur antworten. Das mache ich gern, jeden Sonntag wieder. Der Segen setzt das absolute Sahnehäubchen drauf.
Alles Weitere verliert sich in dem Gefühl einer guten Erinnerung und beim Rausgehen habe ich selten Abschiedswehmut. Ich komme ja wieder. Und außerdem kommen dann die menschlichen Freundschaftsanfragen beim Kirchencafé. Wenn ich will, kann ich antworten und habe einen schönen Ausklang. Wenn nicht, ist mir keiner böse. Wir haben ja eine gemeinsame Heimat.
Gottfried Muntschick